Das war bei weitem nicht die einzige Frage, die sich Elura
stellte, aber es war die, auf die sie am Ende immer wieder zurückkam und mit der sie als Hüterin der Weltformel den Großteil ihres beruflichen Lebens verbracht hatte. Egal, wie die erste Frage war, die letzte war immer: Wie hat das alles angefangen?
Heute jedoch fragte sich die mit über 60 Jahren für eine Magistra ungewöhnlich alte Frau: Wie sollte es enden? Sie wusste, dass sie als Trägerin des Omega-Chromosoms keine besonders hohe Lebenserwartung hatte. Damit war sie seit Langem im Reinen; sie wusste, dass das der Preis war für die Fähigkeit, Magie zu wirken. Doch so langsam sollte sie sich Gedanken über ihre Nachfolge in der Magistra Incorporated machen. Elura hatte diese Entscheidung schon viel zu lange vor sich hergeschoben. Kandidatinnen für die Stelle der Hüterin der Weltformel, die sie seit über zwanzig Jahren innehatte, gab es einige, und die meisten von ihnen schienen auch geeignet zu sein, so viel Verantwortung zu tragen.
Doch die Zukunft versprach, sehr viele Veränderungen zu bringen. Allein das neu verabschiedete Gesetz „Lex Arcanarum Humana“, das es den Magistras in Zukunft erlauben sollte, für nicht magisch veranlagte Menschen zu zaubern, würde ihrer aller Welt vollkommen verändern.
Seit der ersten offiziellen geschichtlichen Erwähnung von Petronilla im Jahr 1298 war es den Magistras nie gestattet gewesen, für andere Magie zu wirken. Sie durften das silberne Glühen ihrer Nasen immer nur für sich und ihre unmittelbaren persönlichen Zwecke einsetzen. Zwar gab es die Magistra Inc. erst seit ca. 300 Jahren als Organisation als solche, doch diese grundlegende Regel galt für die Trägerinnen des Omega-Chromosoms schon seit dem ersten Tag. Das Chromosom, das sich so perfekt zwischen den beiden X-Chromosomen von Frauen zu schmiegen schien, konnte in seltenen Fällen auch zwischen dem X- und Y-Chromosom von Männern haften. Deshalb gab es so viel mehr weibliche Magistras als männliche.
Woher Petronilla diese Mutation hatte und ob sie vorher schon existierte – genau das waren die Fragen, die sich Elura schon so lange stellte. Und auf die es scheinbar keine Antworten gab.
Die Mutation existierte, und wer das Omega-Chromosom besaß, konnte Magie wirken. So einfach und gleichermaßen komplex war die Welt, in der sie lebten.
Für die große, drahtige Frau, die nun in ihrem Büro in der Hauptzentrale der Magistra Incorporated saß, waren aber nun die Fragen der Zukunft wichtiger. Es war wichtiger zu entscheiden, wer ihren Platz als Hüterin der Weltformel einnehmen sollte. Sie hatte es mit Loberi, der Arochn des Lichts, lange diskutiert. Die beiden hochrangigsten Frauen des Unternehmens kannten sich inzwischen gut zehn Jahre und hatten schon einige Konflikte miteinander und auch gegeneinander ausgetragen.
Natürlich hatte in den vergangenen Jahren das Gesetz zum arcanen Handeln an Menschen, das sie beide zusammen mit der Union der Nationen ausgehandelt hatten, alles überstrahlt. Eine so gravierende Änderung der Gesellschaft war beispiellos. Doch Elura war überzeugt, dass sie beide zusammen mit Eirik Skandar, dem Präsidenten der UdN, die Welt zum Besseren verändert hatten. Nicht nur, dass die Regeln jetzt klar waren: Die Caecus, wie die nicht magisch veranlagten Menschen oft genannt wurden, konnten nun viel mehr am Leben der Magistras teilnehmen. Sie alle erhofften sich von diesem Gesetz, dass alle Menschen näher zusammenwachsen würden, dass beide Gruppen mehr Verständnis und Toleranz füreinander hätten. Denn im Laufe der Jahrhunderte hatten sie sich immer mehr voneinander entfernt. Da die magische Mutation nicht linear vererbt wurde, sondern scheinbar willkürlich auftauchte, hatten Magistras oft keine arcanen, also magisch veranlagten, Verwandten, mit denen sie sich austauschen konnten. Sobald sich das silberne Glühen auf der Nasenspitze zeigte, gingen die jungen Leute meist direkt in die kurze Ausbildung und verbrachten ihr Leben von dort an entweder im weiten Umfeld des Unternehmens Magistra Inc. oder ließen die Sache mit der Zauberei ganz bleiben und gingen zurück in ihr normales Leben, ohne jemals wieder nennenswert Magie zu wirken.
Die Entwicklung im letzten Jahrhundert vor der Jahrtausendwende zeigte jedoch, dass sich etwas grundlegend ändern musste. Die Weltbevölkerung, die immer knapp um die eine Milliarde Menschen schwankte, war einfach zu gering, um sich in zwei Lager aufspalten zu können. Sie mussten zusammenhalten – als Menschheit.
Die ältere Generation um Elura, Loberin und Eirik hatte dieser Entwicklung mit dem neuen Gesetz entgegenwirken wollen. Es sollte ein Gesetz für mehr Einheit und Verbundenheit sein.
Natürlich würde die Umsetzung erst einmal langwierig und kompliziert sein. Jemand musste sich um die Einhaltung der Regeln kümmern. Die Magistra durften Magie für Caecus nur ohne jegliche Gegenleistung wirken. Die ganze Idee basierte auf reiner Ungezwungenheit – im wahrsten Wortsinn. Außerdem durfte durch den Zauber, der gewirkt werden sollte, natürlich kein lebendiges Wesen, egal ob Mensch oder Tier, zu Schaden kommen. Auch durfte sich niemand persönlich an dieser Magie bereichern, wobei den meisten Menschen die Idee von Reichtum ohnehin vollkommen fremd war. Denn wer musste schon reich sein, wenn man weder für Wohnraum noch für die Nutzung von Energie, die praktisch endlos zur Verfügung stand, bezahlen musste?
Doch bei den Feinheiten der Umsetzung unterschieden sich die Meinungen der für Eluras Nachfolge infrage kommenden Kandidaten erheblich.
Einerseits war Arlin natürlich die beste Kandidatin. Als Meisterin des Schwurs war sie innerhalb der Firma fast synchron mit Elura, der Karriereleiter, aufgestiegen, sie war erfahren und kannte alle Strukturen. Sie war eine enge Freundin von Elura, allerdings hatte sie eigentlich kein großes Interesse, ihre Aufgabe zu übernehmen. Auch wenn sie fünf Jahre jünger war, war sie für eine Magistra überdurchschnittlich alt und hatte eigentlich geplant, zusammen mit der Hüterin der Weltformel das Unternehmen zu verlassen. Aber nun hatte man sie gefragt, ob sie sich vorstellen könnte, die Stelle der Hüterin der Weltformel noch einige Jahre zu übernehmen. Für einen sanfteren Übergang sozusagen.
Andererseits war da Silvan, der junge und unvoreingenommene Magistra mit gerade mal zweiunddreißig Jahren, der sich aber schon seit der sechsmonatigen Arcana Prima als außergewöhnlich geschickt bei Verhandlungen und Konfliktlösungen gezeigt hatte. Er schien ein untrügliches Gespür für die Menschen zu haben; er konnte mit seiner ruhigen, bedachten Art jede Kontroverse auf die bestmögliche Weise lösen. Natürlich hatte er in seinen jungen Jahren noch nicht die Erfahrung, wie sie Arlin und Elura hatten. Aber vielleicht war es gut, jemandem diese Aufgabe zu überlassen, der unvoreingenommen war, jemanden ohne Vorurteile und der noch nicht jeden, der in der Chefetage von Magistra Inc. saß, in eine Schublade gesteckt hatte.
Zur Frage, wie alles begann, kommt nun also noch die Frage: Wie würde es weitergehen?

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