Scalin



Mitten in der Nacht wachte Scalin auf. 

Erst wusste sie nicht, was sie geweckt hatte, doch das Kribbeln in ihren Fingern war unverkennbar.
Jemand wirkte eine große 8 Konzentration Magie. Eine riesige Menge! Als Hüterin der Quelle sollte Scalin eigentlich über jede große Bewegung von Magie Bescheid wissen. Sie blieb ganz still liegen und überlegte. Hatte sie etwas vergessen? War ein großer Zauber für heute Nacht autorisiert worden? Nein, so was vergaß sie nicht.

Sie seufzte leise und stand auf. War genug Zeit für eine kurze Dusche? Eigentlich duschte sie lieber, als sich mit Magie zu reinigen. Sie mochte das Gefühl von Wasser auf der Haut, den Duft des Schaumes. Aber nach dem starken Gefühl von Ameisen in ihren Händen drängte die Zeit. Und sie musste davon ausgehen, dass, auch wenn sie die Quelle der Magie schnell fand, es ein langer Tag mit viel Papierkram werden würde.

Wehe, wenn da jemand in der Quellenabteilung Mist gebaut hatte! Aber eigentlich kannte Scalin ihr Team; sie wusste, sie konnte sich auf jede Einzelne von ihnen blind verlassen. Sie arbeiteten schon so lange zusammen, die Regeln waren klar und ließen wenig Spielraum.
Was nur bedeuten konnte, dass sich in diesem Moment jemand bewusst über ebendiese Regeln hinwegsetzte.

Während Scalin schnell den Badezauber über ihren Körper laufen ließ, scannte sie die magischen Wellen in der Atmosphäre. Noch während sie sich den roten Lockenschopf hochband, lief sie los.
Es war ein Levitation-Zauber, ganz klar, gewirkt von mindestens vier Magistras gleichzeitig.
Scalin warf ihren Mantel über und stieg in den Gleiter. Es war eines der neuen Modelle, sie hatte ihn erst einige Monate. Außerdem war er für sie speziell modifiziert, ausgestattet für einen Notfall, der eigentlich nie hätte eintreten sollen. Nun war er viel schneller da, als jemand hatte erwarten können.

Die Herrin der Quellen seufzte noch einmal, startete die Maschine und programmierte das Ziel schlicht mit „Großer Magieausbruch“.

Die Navigationsgeräte waren so kalibriert, dass sie sofort in Richtung des großen Magieausbruchs flogen. Scalin war keine Geomagistra, aber sie spürte, dass sie Richtung Festland flogen, eher südlich und auf die große Waldfläche der früheren Sahara zu.
Als sie immer näher kam, begann ihr ganzer Körper zu kribbeln, und Scalin stellte sich auf das Schlimmste ein.
Schließlich landete der Gleiter, und nachdem sich das Dach geöffnet hatte, sah sie eine große Lichtung, die von vier großen Lichtpunkten an den Ecken erhellt wurde.

Auf der Lichtung herrschte rege Betriebsamkeit. Scalin zählte vier junge Leute auf dem Platz; allen glühten die Nasen so hell, als wollten sie gleich explodieren. Sie erkannte Renoth und Calenor und wusste sofort, was hier vor sich ging. Die beiden jungen Arcanen Geomagistra waren neu in Pioryns Abteilung, und die Anfänger dort wurden gerne mal übermütig.

Neugierig geworden, beobachtete Scalin das Treiben auf dem Platz und sah sich den großen Kreuzer, der in der Mitte stand, genauer an. Im Inneren konnte sie Bewegungen von mindestens zwei weiteren Personen erkennen. Scheinbar wurde das große Schiff gerade startklar gemacht. Deshalb der enorme Einsatz von Magie.
Scalin schlich ein leises Schmunzeln über das Gesicht und sie fragte sich, was die ungestümen jungen Magistras wohl vorhatten. Sie brachte ihr Gesicht schnell wieder unter Kontrolle, beschwor eine pulsierende rote Lichtkugel über ihrem Kopf und trat auf die Lichtung.
Sie sagte vorerst nichts und wartete, dass jemand sie bemerkte. Doch Calenor und Renoth waren so konzentriert darauf, das Schiff startklar zu machen, dass sie die deutlich ältere Frau überhaupt nicht wahrnahmen.

Erst als Arvelin im Cockpit auf ihre Anzeigen schaute, bemerkte sie ein rotes Leuchten, dort, wo keines sein sollte. Sie schaltete die Außenmikrofone ein und sagte schlicht: „Leute, wir sind erwischt worden!“
Calenor sah hoch und entdeckteScalin am Rande der Lichtung. Rasch sah sie sich nach Renoth um, doch der konnte ihr jetzt auch nicht mehr helfen.
Als Scalin sicher war, dass alle ihre Anwesenheit wahrgenommen hatten, zog sie jegliche Magie aus der Umgebung heraus. Schlagartig gingen die Maschinen des Kreuzers und die Lichter auf der Lichtung aus.
Sie blieb geduldig unter ihrer roten Kugel stehen und wartete, bis alle jungen Magistra sich bei ihr eingefunden hatten.
Es kostete sie einige Überwindung, nicht zu ihre Mundwinkel an Ort und Stelle zu halten, doch sie wusste: jetzt musste sie professionell bleiben. Das würde Pioryn mindestens ein selbst gekochtes Abendessen kosten!
Sie zählte fünf Magistras, die nun vor ihr standen, kannte aber nur drei von ihnen. Arvelin war ganz offensichtlich die Rädelsführerin der kleinen Gruppe; sie sah Scalin jetzt herausfordernd an.

„OK, was genau soll das hier werden?“, fragte Scalin in die Runde.
„Wir wollen zum Mond!“, sagte Arvelin schlicht.
Ah ja, natürlich, dachte die Hüterin der Quelle. Es sind Pioryns Leute. Selbstverständlich wollen sie zum Mond, was auch sonst.

Laut sagte sie: „Und wo ist eure Genehmigung für die Zusammenwirkung von Magie für mehr als zwei Magistra?“
Scalin wusste natürlich, dass sie keine hatten, denn das wäre über ihren Tisch gegangen. Und sie hätte den Antrag, wie immer, abgelehnt.

Wenn jemand mittels Magie zum Mond hätte fliegen dürfen, dann wäre Pioryn die Erste gewesen. Doch die Auswirkungen von fehlender Schwerkraft und Atmosphäre waren für Magistras schlichtweg noch nicht gut genug erforscht. Es konnte alles passieren, von explosiver Ausbreitung der magischen Energien bis zum Tod der Magistra. Und die jungen Leute, die jetzt vor ihr standen, wussten das nur zu genau! Warum waren sie so dumm?

Natürlich kannte Scalin die Antwort darauf bereits; schließlich war auch sie einmal jung gewesen. Sie wusste noch wie begeistert sie war, als sie das erste Mal Magie gewirkt und sich unbesiegbar gefühlt hatte. Doch die Realität sah anders aus: Auch Magistras waren verletzlich und konnten durch Zauberkraft Schaden nehmen.

Die jungen Magistras schwiegen, und die meisten von ihnen hatten sogar den Anstand, betroffen zu Boden zu schauen. Außer Arvelin, sie schien etwas mehr Mut zu haben. Sie sah Scalin trotzig an, als wollte sie sagen: „Wer braucht schon Genehmigungen?“
Arvelin verkniff sich jedoch, die Leiterin der Quellenabteilung noch weiter zu verärgern. Sie wusste, das würde ihr nun auch nichts mehr bringen.
Scalin versuchte es auf einem anderen Weg: „Wem gehört dieser riesige Brummer von einem Schiff eigentlich?“
Sie mussten seit Wochen daran gearbeitet haben; das Schiff war offenbar luftdicht gegen das Vakuum abgedichtet worden, und zumindest die Unterseite war mit Panzerplatten verstärkt worden.

Diese jungen Leute hatten wirklich gute Arbeit geleistet! Arvelin wusste das und sagte zu Scalin: „Es war ein ausrangiertes Schiff der Geomagistra; wir hatten die Erlaubnis, es umzubauen!“
„Für welchem Zweck umzubauen?“, fragte Scalin, der sofort aufgefallen war, dass Arvelin ihr weder den Grund noch den Genehmiger verraten hatte.
Wieder schwiegen alle fünf.

Scalin warf einen strengen Blick in die Runde und beschloss, dass die jungen Magistras jetzt wieder Pioryns Problem waren. Sie hatte die Magie an diesem Ort eingedämmt und das Schiff mit einer magieabweisenden Schutzschicht überzogen. Das musste genügen, für den Anfang.
Sie sollte sich überlegen, wie sie die Übertretung der Kooperationsregel ahnden würde.

„OK, wo sind eure Gleiter? Wir fliegen jetzt alle schön brav nach Hause, frühstücken und dann meldet ihr euch gleich als Erstes bei eurer Chefin!“

Scalin konnte förmlich spüren, wie mehrere Steinbrocken von den Herzen der Magistras fielen. Sie wussten, Pioryn würde Verständnis für sie haben. Mehr sogar noch; schließlich hatte sie ihre jungen Kolleginnen überhaupt erst auf die Idee gebracht, zum Mond fliegen zu wollen.



Kommentare