Die Geomagistra waren die einzigen Angestellten der Magistra Inc., die zwei Voraussetzungen erfüllen mussten: Sie mussten das Omega-Chromosom tragen und nach einer Eignungsprüfung eine zweijährige Ausbildung absolvieren.
Denn die Geomagistra hatten zusätzlich zu den magischen Kräften noch die sehr spezielle Fähigkeit, Gaia lesen zu können. Natürlich ist die Erde an sich kein Lebewesen, niemand zweifelte daran, doch sie war unbestritten ein sich selbst regulierendes System.
Die Geomagistra konnten sie verstehen, lesen und interpretieren. Und vor allem konnten sie sie fühlen.
Das war eine der wichtigsten Fähigkeiten zum Schutz des Lebens und zur Aufrechterhaltung der Zivilisation. Unvorstellbar, was Naturkatastrophen wie Vulkanausbrüche, Erdbeben oder Tsunamis anrichten würden, könnten die Geomagistra die Menschen nicht rechtzeitig warnen. So ganz wusste niemand, wie es tatsächlich funktionierte, doch voll ausgebildete Geomagistra Arcana spürten, was tief in der Erde, hoch in der Luft und weit draußen im Ozean vor sich ging. Sie wussten, wann sich Verwerfungslinien bewegen wollten und wo das Magma den Vulkan kitzelte. Nur so konnten alle Lebewesen rechtzeitig in Sicherheit gebracht werden; nur so wusste das Bauministerium, wo man neue Siedlungen bauen konnte und wo es klüger war, Abstand zu halten.
Momentan hatte Pioryn die Leitung der Abteilung Geomagistra inne, als eine der besten ihres Faches. Pioryn selbst wusste allerdings gar nicht so genau, wie sie diese Führungsposition erlangt hatte oder ob sie diese überhaupt innehaben wollte. Denn als Leitung saß man viel in Büros und musste an Besprechungen teilnehmen. Und man musste an endlosen Festbanketten teilnehmen – sei es zum Dank einer gelungenen Evakuierung oder zum Aufbau neuer Wohneinheiten. Ständig hielt jemand eine Rede, und dann musste man etwas essen. Pioryn war aber lieber draußen, mit der Hand am Boden – wörtlich und im übertragenen Sinne.
Es war alles viel zu schnell gegangen. Klar hatte sie, nachdem sie mit knapp 24 festgestellt hatte, dass sie "das Glühen" besaß, erst die sechsmonatige Grundausbildung gemacht. Bereits während der ersten Tests war klar gewesen, dass sie eine Geomagistra war. Also den anderen. Ihr selbst war das gleichzeitig schon immer und noch nie bewusst gewesen. Sie war schon immer gerne draußen gewesen, aber das war doch in den MiniCampus-Einrichtungen gewissermaßen die Hälfte der Betreuungszeit. Und ja, natürlich fühlte sie stets, was unter ihren Füßen war – ganz tief unten. Wussten andere Menschen nicht, auf welcher Art Felsen sie gerade gingen? Nahmen sie nicht wahr, wo das Gestein aneinander kratzte, wo die Magmaschichten sich in Subduktionslinien verschluckten, überlagerten und ineinander übergingen? Wie sollte sich das anfühlen, das nicht zu wissen?
Pioryn konnte das Erdmagnetfeld spüren, als würden Fäden an ihrer Haut ziehen wie an einer Marionette. Sie wusste in einem geschlossenen Raum stets, wo sich die Pole befanden. Und manchmal, wenn sie ganz still in ihrem Bett lag, konnte sie die Wirbel im flüssigen Erdkern fühlen, wie sie sich träge um sich selbst drehten wie schimmernde Linien vor ihren geschlossenen Augenlidern.
Die junge Frau war so sonnenklar eine Geomagistra, dass sie im zweijährigen Ausbildungsprogramm oft mehr Wissen weitergab, als sie selbst empfing. Und dann, als sie endlich in den Außeneinsatz durfte und einmal den pazifischen Feuerring umrunden konnte, war sie frei – gleichzeitig immer unterwegs und doch angekommen.
Doch sie hatte ihre Arbeit ein wenig zu gut gemacht. Sie konnte die Thingvellir-Verwerfung spüren, als sie sich verschob, und dabei war, ein mittelgroßes Beben auszulösen. Ärgerlicherweise bemerkte sie es, als sie gerade mit dem Segler vor Java ankerte, um die dortigen Erdschichten zu kartieren. Sie war natürlich bereit, mit dem großen Gleiter nach Reykjavik zu fliegen, um die Verschiebung vor Ort zu bestätigen und die Evakuierung der winzigen Siedlung zu beaufsichtigen.
Dabei wäre es gar nicht nötig gewesen, diese Reise anzutreten: Die Verschiebung der Platte hatte sie so deutlich gespürt, als wäre ihr der kleine Zeh eingeschlafen.
Es war auch kein sehr großes Beben gewesen, Pioryn wollte nur sichergehen, dass alle Lebewesen aus der Gefahrenzone gebracht wurden und beobachten, ob nicht doch vielleicht einer der kleineren Vulkane auf der Insel ausbrach.
Außerdem liebte sie die Gesyre mit ihrer ungezähmten Kraft. Geomagristra machten sich oft einen kleinen Spaß daraus, den Touristen vor Ort auf die Sekunde genau vorherzusagen, wann welche Wasserfontäne ausbrechen würde.
Pioryn konnte Gaia auch hier spüren, in ihrem schicken Büro, der Hauptzentrale des Unternehmens. Natürlich konnte sie das. Wahrscheinlich hätte sie das sogar auf dem Mond gekonnt.
Das war eine Frage, die sie sich immer wieder stellte. Wie sich das wohl anfühlen würde, dort oben. Wie würde sich die veränderte Schwerkraft auf ihr Nervensystem auswirken, auf ihr Gefühl für die Erde?
Allerdings, das musste Pioryn zugeben, war in der Zentrale nicht alles schlecht. Das hatte sie während ihrer kurzen Zwischenstopps hier bereits festgestellt, und dieser Eindruck verstärkte sich inzwischen von Tag zu Tag mehr. Hier öffneten sich Türen für intensive Fachgespräche. In ihrer Abteilung gab es natürlich viele Geomagistra, die besten ihres Forschungsbereichs – jeden Alters und jeder Stufe. Sie standen auf den Gängen (am liebsten natürlich im Erdgeschoss), tranken Tee und diskutierten die jüngsten Ereignisse rund um ihr Studienfeld.

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