Gerolamo Cardano

Gerolamo grübelte. 


Er war recht gut im Grübeln. 




Besonders gerne grübelte er am Meer, wenn es stürmisch und kalt war. Die Winter konnten in Genua wirklich recht kalt werden – und stürmisch.

Er wusste einfach, dass er aus dieser Kraft, die der Ozean in Form von Wellen scheinbar aus purer Freude verschleuderte, etwas gewinnen konnte. Wenn die Wassernmassen sich auftürmten, wenn die Gischt mit schierer Gewalt ganze Küstenstücke abriss, musste sich daraus doch Energie gewinnen lassen.

Gerolamo ahnte, dass er ein Magistra war, dass er Träger des seltenen Omega-Chromosoms war. Zwar hatte man im Jahr 1526 noch kein Verständnis von Genen und Chromosomen, aber man wusste seit der Zeit der großen Petronilla 1320 um die Bedeutung des silbernen Schimmers der Nasenspitze und der wohlige Schauer, der einen durchfuhr, wenn ein Zauber gewirkt wurde. Gerolamo nutzte die Magie jedoch nicht sonderlich häufig.

Wozu auch? Er hatte alles, was er benötigte: Er war satt und hatte es immer warm. Er hatte ein Dach über dem Kopf und er war in Sicherheit. Ihm war klar, dass es nicht selbstverständlich war, auch wenn sich die Erde in den letzten zweihundert Jahren so radikal verändert hatte, dass er sich kaum vorstellen konnte, wie die Welt ohne Magie je gewesen war.

Trotz allem war er dennoch sehr privilegiert, er hatte studieren können und war nun dabei, seine Stelle an der Universität von Genua anzutreten. 

Was ihn antrieb, war etwas anderes. Es war die überbordende Energie, die ihn in der Natur so verschwenderisch umgab. Und er wusste aus seinem Physikstudium, das er gerade zu Hause in Pavia beendet hatte, dass sich Metalle mit einer Art Energie aufladen konnten und diese Energie manchmal bis zu einigen Tagen gespeichert werden konnte. Doch wie? Wie funktionierte das? Und wie konnte er das Metall dazu bringen, sich aufzuladen – nicht nur durch Zufall? Es musste eine Möglichkeit geben. Deshalb saß er jetzt hier, beobachtete den Sturm und dachte nach.

Das kleine Windrad aus Papier, das die junge Lucia ihm geschenkt hatte, fiel ihm ins Auge. Sie hatte es bunt bemalt und kunstvoll gefaltet. Es drehte seine Flügel im Wind und wurde dabei so schnell, dass es fast davonflog. Gerolamo wollte es nehmen und an einen sicheren Ort bringen. Lucia wäre sicher traurig gewesen, wenn es davongeflogen wäre. Als er die Nabe berührte, zuckte er zurück, denn sie war heiß! Lucia hatte zur Befestigung der Blätter Kupferdraht verwendet, und dieser war inzwischen durch die Reibung so warm geworden, dass Gerolamo sich fast die Finger daran verbrannt hätte.

Als er das kleine Windrad mit einer Wolldecke anheben wollte, passierte jedoch etwas noch Seltsameres: Kurz bevor die Wolle das Kupfer berührte, sah Gerolamo ganz deutlich einen kleinen grünen Funken!

Er rief nach Lucia und fragte sie, woher sie das Kupfer hatte. Dann fragte er sie, ob sie ihm ein Stück Wolle aus ihrem Spinnrad geben könnte. Sie gab ihm ihre Werkstoffe und die beiden fingen an zu experimentieren. Draußen stürmte es weiterhin. Gerolamo lernte von Lucia, wie genau sie ihre Windräder baute, und erfuhr, dass Lucia bereits mit unterschiedlichen Materialien unterschiedliche Farben von Funken erzeugt hatte. Die junge Frau hatte ihm das Windrad geschenkt, um zu überprüfen, ob es auch bei anderen Menschen funktionierte. Denn wenn man noch nicht genau wusste, ob man eine Magistra war oder nicht, passierten einem manchmal die seltsamsten Dinge.

Lucia hatte Chemie studiert, nicht Physik, wie Gerolamo. Deshalb ging sie die Experimente vollkommen anders an als er. Allerdings stellte sich ihr gut eingerichtetes Labor in dieser Nacht als eine wahre Schatzgrube an Komponenten heraus, mit denen sie Versuche anstellen konnten.

Besonders beeindruckt war Gerolamo von einer kleinen Röhre, die Lucia aus einem Treibholzast gefertigt hatte. Es war schon dunkel, als sie ihn mit an den Strand nahm, wo sich die Wellen immer noch wild und ungezähmt brachen. Sie blies eine kleine Melodie in den hölzernen Hohlkörper. Gerolamo hätte fast einen Luftsprung gemacht, als er sah, dass sie dieselben Funken, wie mit dem Windrad erzeugte, nur dass sie jetzt blau leuchteten. Er fragte sie, ob sie es auch mit einem anderen Material als Holz versucht hatte, und schnell stellte sich heraus, dass die Substanz keine Rolle spielte.

Gerolamo lief zurück in sein Labor, wo er eine kleine Spieldose, die er von seiner Mutter als Kind geschenkt bekommen hatte, holte und sie an die Holzröhre hielt. Sie fanden heraus, dass nicht jede Melodie funktionierte, es mussten bestimmte Akkorde und Tonfolgen eingehalten werden, auf die die Wellenenergie reagierte.

Und dann machten sie zusammen ihre größte Entdeckung. Vielleicht eine der wichtigsten Entdeckungen, die zwei Magistras jemals miteinander gemacht hatten. Lucia wirkte gerade magisch auf ein Stück Gold ein, um herauszufinden, ob sich mit dem wertvollsten aller Metalle vielleicht besondere eine besondere Art der Elektrizität erzeugen lassen würde. Sie hörte Gerolamo, der in den Tiefen ihres Labors herumstöberte, um noch mehr Rohstoffe zum Experimentieren zu finden. Wie es seine Gewohnheit war, summte er dabei die Melodie, die sie eben am Meer miteinander entwickelt hatten, immer und immer wieder. Sie konzentrierte sich auf ihre Magie, ihre Nasenspitze glühte auf und plötzlich stoben so viele silberne Funken um sie herum auf, dass sie erschrocken den Goldklumpen fallen ließ. 

Gerolamo eilte, vom Lärm aufgeschreckt, schnell zum Werktisch zurück, um zu sehen, was geschehen war. Als er hinter dem vordersten Regal hervorkam, sah er gerade noch das silberne Flimmern in der Luft verglühen. Lucia stand in der Mitte des Raumes und schien von innen heraus geradezu zu leuchten! 

Was hast du gemacht? Schnell, zeig es mir!“, rief er der jungen Frau zu. Sie drehte sich langsam zu ihm um und sah ihn fragend an, denn sie wusste nicht, was sie gemacht hatte. Lucia war sicher, dass das Gold nichts mit der Energieexplosion zu tun hatte. Der Klumpen lag unbewegt, fast träge auf dem Boden. 

Du hast gesungen brach es aus Lucia heraus. Und als ich mit Magie das Goldstück beeinflussen wollte, fühlte es sich plötzlich an, als würde sich in mir alles zusammenfügen und zerbersten gleichzeitig!

Sie versuchten es abermals, mit weitaus weniger Magie und leisserem Gesang von Gerolamo. Dann tauschten sie. Lucia sang und Gerolamo zauberte. Auch das schien zu funktionieren, und er spürte diese ganz besondere Art des Energieflusses in seinem Körper. Die Kraft entfaltete sich nur, wenn sie zusammenarbeiteten. Wenn nur einer von ihnen sang und gleichzeitig Magie freisetzte, passierte gar nichts. Aber wenn sie miteinander interagierten, ergab sich eine ganz neue Art von Harmonie, die sich in einem silbernen Funkenregen freisetzte.  

Um vier Uhr morgens weckten sie Lucias kleinen Bruder, der schneller schreiben konnte als jeder andere, den sie kannten. Er versuchte verzweifelt, alles in Tabellen festzuhalten und mit den beiden Schritt zu halten. In dieser Nacht notierte er vier erfolgreiche Varianten, um Blitze in drei verschiedenen Farben zu erzeugen. Im Laufe der Zeit sollten Forscher noch neun weitere Möglichkeiten in zwei zusätzlichen Farben finden, um elektrische Energie zu erzeugen.



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