Eneris


Ein Meeting. Schon wieder ein Meeting. 

Wozu das gut sein sollte, würde sie wohl nie verstehen.

Eneris saß in diesem Meeting und fragte sich,  warum ihre Worte erst unbeachtet blieben. Am Ende machten sie es ja doch auf ihre Weise, weil es die beste Lösung war. Es war ihr rätselhaft, warum sie immer alles erst erklären und alle Anwesenden überzeugen musste. Letztlich würde Eneris die Beteiligten auf ihrer Seite haben. 

Es ging natürlich um einen Sturm, wie eigentlich immer. Und weil sie die Sturmmeisterin war, musste sie teilnehmen.

Dabei hatte sie,  wie üblich, nichts mit dem eigentlichen Sturm zu tun.

Sie hatte ihn nicht verursacht, ihre Abteilung hatte ihn nicht verursacht und auch keine ihrer Adeptinnen. Es war einfach ein ganz normaler Sturm, der ganz normalen Schäden an einer ganz normalen Küste verursacht hatte.

Trotzdem war sie hier, um das Problem zu lösen – zusammen mit der Staatssekretärin und dem Architekten des Umweltministeriums.

Es ging darum, die Schäden "aufzuteilen", genauer gesagt deren Behebung zu planen. Zwar wurden keine Menschen oder Tiere in Mitleidenschaft gezogen; alle wurden rechtzeitig von den Hubgleitern ins Landesinnere gebracht. Aber einige Häuser standen unter Wasser, und die Küstenlinie war beschädigt worden.

Sie hätte das Unwetter natürlich stoppen können. Als Sturmmeisterin war es manchmal schwieriger, das Wetter ungehindert geschehen zu lassen, als einzugreifen. 

Aber weder sie noch jemand aus ihrer Abteilung hatten eine Rolle dabei gespielt.  Es hätte in ihrer macht gestanden, das naturereignis zu verhindern, doch die oberste Prämisse von Magistra Inc. lautete nun mal: so wenig Intervention wie möglich, so viel wie nötig.

Und da alle Lebewesen evakuiert worden waren und die Bebauung ohnehin schon etwas in die Jahre gekommen war, saßen sie jetzt hier.

Eneris konnte mit ihren Leuten alles innerhalb einer Stunde in Ordnung bringen, aber zuerst musste natürlich alles besprochen werden.

Sie versuchte, sich ein Seufzen zu verkneifen, als Kaneia, die Staatssekretärin, wieder mit ihrer "Vision" anfing. Sie wollte am liebsten alles nur ebenerdig erneuern – nicht mal ein zweites Stockwerk, geschweige denn ein drittes. Eneris überlegte, ob Kaneia, die Staatssekretärin des Ministeriums, wohl Höhenangst hatte. Kein anderer Grund schien dafür in Frage zu kommen

Es ergab einfach keinen Sinn. Nicht, dass nicht genügend Platz wäre, um den Wohnraum und die öffentlichen Einrichtungen wie die Speisebereiche, die Gemeinschaftsräume und den MiniCampus für die Kinder auf einer Ebene unterzubringen. Aber dann wären die Wege zu weit, und es gäbe keine Aussicht, und nichts, woran die üppigen Kletterpflanzen hochranken könnten.

Ihr gemeinschaftlicher Lebens- und Arbeitsraum sollte doch nicht nur funktional sein. Eneris wollte für alle Lebensbereiche jeweils eine Ebene schaffen, in der sich die Menschen wohlfühlten. Mit genug Platz, um sich zurückziehen zu können, aber auch mit Raum für Veranstaltungen und Begegnungen.

Am Ende einigte man sich doch auf einen zweistöckigen Wohnkomplex mit Dachterrasse und angeschlossenem MiniCampus, der zum Wald hinaus angelegt wurde. Die Wohneinheiten führten zum Innenhof, wo ein Naturschwimmteich und eine Kantine entstehen sollten. Ganz nach Eneris’ Geschmack also.

Was sie allerdings immer sehr begeisterte, waren die informellen Gespräche vor, während und nach den Meetings. Eneris mochte Kaneia gern – so war es nicht. Aber wozu musste man immer das Protokoll einhalten, wenn es doch so viel leichter gehen könnte?

Denn so erfuhr sie, dass Kaneias jüngster Sohn offenbar das Omega-Chromosom trug. Was insofern schon überraschend war, als Kaneia selbst ein Caecus war wie er im Buche stand. Sie zeigte keinerlei magische Veranlagung und hatte, außerhalb ihrer beruflichen Tätigkeit, auch wenig Kontakt zu den Arcan begabten Magistra.  Natürlich wurde das Gen nicht vererbt. Aber bei manchen Familien war es trotzdem überraschend, wenn sie einen Magistrat hervorbrachten.

Und Kaneias autologen, also von ihr selbst geborenen, Töchter sowie die beiden, die von einer Austragenden geboren wurden, trugen alle nur die üblichen X-Chromosomen. Es war ungewöhnlich, dass Jungen das mutierte Gen besaßen, das dem Träger die Fähigkeit zur Magie verlieh.

Aber die Magistratur suchte sich ihre Träger schon immer selbst aus.

Kaneias Sohn, Arvid, hatte erst zweimal das silberne Glühen auf der Nasenspitze gezeigt, das ein untrügliches Zeichen für die magische Veranlagung war. Es offenbarte sich, als Arvid etwas wollte, das schwer zu bekommen war, wie so oft bei jungen Magistra. In seinem Fall war es ironischerweise die unbesetzte Stelle im Team der Sturmmagier von Magistra Incorporated. Er interessierte sich schon immer sehr für das Wetter, hauptsächlich für die genauen Prozesse in der Atmosphäre. Der junge Mann wusste über alle Ebenen des Klimasystems und dessen Zusammenhänge genau Bescheid. Aber er wollte sich die Sache aus der Nähe ansehen und nicht immer nur vom Boden aus die Messdaten prüfen. 

Und so fand seine Mutter ihn eines Tages gut 50 Meter über dem Dach ihres Wohnkomplexes schwebend. Sie sah ihn nur, weil er laut rufend und mit den Armen rudernd über dem Bungalow trieb und scheinbar nicht so recht wusste, wie er dort hingekommen war. Kaneia holte eine befreundete Magistra aus dem Gebäude, die ihn sicher wieder auf den Boden holte. 

„Was war das denn?“, fragte Kaneia ihren Sohn ungläubig. 

„Ich weiß nicht“, antwortete Arvid erschrocken. „Ich weiß nur, dass ich eine interessante Wolke gesehen habe und sie mir aus der Nähe anschauen wollte. Nach oben zu schweben war ganz leicht. Nur nach unten konnte ich irgendwie nicht mehr zurück kommen.“

„Der Atmosphärendruck ist am Boden viel stärker als weiter oben in den Wolken“, erklärte die Magistra, die in aus der Luft heruntergeholt hatte. Du musst mehr Magie aufwenden, um nach unten zu kommen, als nach oben, aber das wirst du bei deinem Arcana Prima Kurs schon bald lernen, fügte sie lachend hinzu. 


Was zuerst unmöglich schien, war nun ganz einfach: Arvid musste nur den sechsmonatigen Basisausbildungs-Kur, „Arcana-Prima“ genannt, durchlaufen um die Grundlagen der Magistratur zu erlernen. Gleich danach konnte er als Magistra Novitia in Eneris’ Abteilung anfangen. Die spannende Frage war indessen, wie er sich in einem Kurs mit 25 meist jungen Frauen machen würde, 9, die für gewöhnlich schon länger davon Kenntnis hatten, dass sie das magische Omega-Chromosom trugen und entsprechend gut vorbereitet in den Kurs gingen.


Kurzum, Eneris und Kaneia hatten nach dem geschäftlichen Teil noch jede Menge zu besprechen.


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